Kann gutes UX-Design veralten?

04/10/2020

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Menschen, die glauben man müsse eine aufregende Grafik zeigen, um gutes UX-Design – oder die Fähigkeit dazu – zu dokumentieren, haben den Kern des Themas nicht verstanden. Es geht niemals um ein interessantes, anregendes Aussehen; jedenfalls wäre das der falsche Anfang. Es geht einzig und allein darum, dass eine grafische Bedienoberfläche dem Benutzer die passenden Hinweise gibt, damit der weiß und sich sicher ist, wie er welche Aktion auslöst und was diese Aktion ist. Es ist gleichgültig, ob das mit Windows 95-, Windows XP-, oder MacOS-Elementen, ob das skeuomorph oder flat dargestellt wird. Das eine sieht alt und langweilig aus, das andere oft ästhetisch ansprechend, eben interessant oder gar phantastisch (denken wir an die Interfaces in Oblivion); aber es ist kein brauchbarer Hinweis auf die Qualität der grafischen Bedienoberfläche (mehr zu diesem Interface).

Ohne Ordnung kann keine Klarheit bestehen.

Natürlich können wir schnell entscheiden, wenn keine Ordnung erkennbar ist. Eine chaotisch erscheinende Benutzeroberfläche wird eine – naja, sagen wir zumindest flache Lernkurve haben – also eher ungünstig im Alltag sein. Aber die Ordnung alleine, eine manchmal zu sehende Buntheit, diese »geilen« Interfaces; das allein ist auch wertlos! Wenn der Sinn der Elemente den Benutzern nicht klar ist, wenn einzelne Elemente unterschiedlich funktionieren (je nach Status) und wenn Konventionen verletzt werden, kann die Oberfläche noch so schön aussehen, sie funktioniert nicht. Gewisse Icons können (noch) nicht für andere als die gewohnte, die gelernte Funktion verwendet werden (z.B. Toilette, Fluchtweg). Bestimmte Elemente müssen sich entsprechend der Erfahrung verhalten (Dropdown, drei Punkte nach einem Menüeintrag verweisen auf einen folgenden Dialog).

Um die Qualität der Leistung eines UX-Designers bewerten zu können, muss man selbst (persönlich!) mit der Software arbeiten! Am besten, indem man damit Aufgaben löst, echte Beispiele. Das Beobachten der Menschen im Umgang mit der Software ist eine Notlösung; oft haben sich die Benutzern schon an eigenartige Verhalten des GUI, der Benutzeroberfläche gewöhnt. Am wenigsten Aussagekraft hat eine Präsentation. Der Präsentator kennt die Software und weiß was er wie zeigen soll. Stimmt dann noch die Grafik – d.h. ist sie gefällig –, dann kann man sich über Applaus sicher sein. Doch heißt das noch immer nicht, dass es im Alltag für Sie und mich gut benutzbar ist. Der Jammer ist, dass diese UX-Lösungen häufig Auszeichnungen bekommen. Der Grund ist einfach: sie sehen interessant und gefällig – also modern – aus und werden flüssig präsentiert, statt selbst ausprobiert. Achtung, ich sage nicht, dass gefällig und modern aussehen und gut präsentiert werden, automatisch nicht gut funktionieren bedeutet! Wir müssen uns nur klar sein, wir wissen es nach einer Präsentation einfach nicht. Doch wir geben Auszeichnungen (oder erteilen Aufträge) auf dieser Basis.

Abschweifung
Für mich augenöffnend war die Auszeichnung der Arbeit von Science Wonder Productions »Visionäre im Exil«. Ein Meilenstein österreichischer »Multimedia«. Diese CD-ROM war ein großartiges Modell, um Interessierten zu demonstrieren was da auf uns in der zweiten Hälfte der 1990er zukommen wird. Da waren Textabschnitte miteinander verlinkt, mit Musik, Applaus und anderen Geräuschen unterlegt, dazu gab es kurze Clips, Bilder, etc. All das, was wir damals noch nicht kannte und uns in Science Fiction Romanen erträumten, war (aus heutiger Sicht) rudimentär implementiert. Eine Präsentation davon war immer, immer!, für Applaus gut. Man klickte hier, zeigte das Bild, den Film, jene Animation. Boom – sehr abwechslungsreich und interessant. Doch zog man sich dann zurück, um tatsächlich über die Visionäre im Exil, die österreichischen Architekten in Amerika, zu lesen, wurde man bald der vielen Reihze überdrüssig. Keine Chance auf Konzentration. Keine Möglichkeit zu lernen, zu verstehen, sich etwas zu merken. Unglücklicherweise funktioniert meine CD-ROM heute schon lange nicht mehr (das war für Mac OS 7 oder Mac OS 8). Als ich das feststellte, dachte ich an die schönen Folianten aus dem Mittelalter, die können wir heute noch lesen.

Viel klüger ist es Aufträge auf Basis des Selbstverständnisses des Designers zu erteilen.

Geht es ihm um ein preiswürdiges Design oder um bestmögliche Bedienbarkeit vom geringst informierten Benutzer? Je größer (breiter) die Zielgruppe, desto einfacher, universeller, unaufgeregter muss eine Benutzeroberfläche sein. Sie soll »funktionieren und nicht-häßlich« sein!

Sie funktioniert dann,

  • wenn der Benutzer zu jedem Zeitpunkt das Gefühl hat die Lage zu beherrschen (»to be in control«);
  • wenn der Benutzer nicht unsicher ist, wie er die gewünschte Aktion auslöst und
  • wenn die grafische Darstellung seinen Sehgewohnheiten entspricht (z.B. ausreichender Kontrast, gute (lesbare) Typografie, ausreichende Hinweise auf Funktionsweise, nachvollziehbare Ordnung und Gruppierung).

Dabei wird die Bedienoberfläche gleichzeitig »nicht-häßlich«.

Jetzt erst, wenn diese Bedingungen erfüllt sind, könnte man über »Behübschung« nachdenken; vorsichtig, einfühlsam und geschmackvoll die Ästhetik ein wenig weiter treiben; ein Logo des Betreibers, Zierelemente aus dem Erscheinungsbild – wenn es unbedingt sein muss. Die Gefahr der Verschlimmbesserung besteht, eine Erhöhung des optischen Lärms (der »visual noise«) ist jedenfalls gewiß. In Maßen kann man dem zustimmen, denn es braucht mitunter die Erkennbarkeit des Herstellers. Die Software hat dann noch andere Aufgaben (Marketing) zu erfüllen, die diesen sanft erhöhten »Lärm« rechtfertigen.

Fazit

Egal wie »alt« eine Benutzeroberfläche aussieht (weil sie nicht der aktuellen und meist kurzlebigen Mode entspricht – wer will jetzt noch »flat« aus 2007?) – das ist bloß das Kleid – es geht einzig und allein, ob sie die Bedienung der Software unterstützt oder behindert.

Ist die Funktionsweise gut gemacht, hat der UX-Designer gute Arbeit geleistet. Danach soll beurteilt werden. Das ist der innere, der wichtige Wert. Das Kleid über diese Funktionsweise (»flat« oder skeuomorph mit Schatten, schwarzweiß oder bunt, etc.) ist je nach Mode auswechselbar. Diese guten Designer können sich leicht an solche Oberflächlichkeit anpassen und die gewünschten Kleider über die korrekte, gute Funktion schneidern.

Gutes UX-Design altert mitunter (d.h. man kann das Entstehungsjahr ahnen), aber es veraltet nie.


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