Dieter Rams und seine 10 Regeln

29/05/2022

Kommentar

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Dieter Rams wurde dieser Tage 90 Jahre alt. Eine Design-Ikone. Wir haben seine Arbeiten bewundert. Manche. Bis wir feststellten, dass wir eigentlich von Hans Gugelot begeistert waren, der leider viel zu früh verstarb. Der war der geistige Vater (so lasen wir) des legendären »Schneewittchensargs«, der die Musikmöbel-Branche disruptierte (die Entwicklung zerriss), indem plötzlich aus einem Phono-Möbel ein Hifi-Gerät wurde.

Mir gefiel an Rams die Stille. »Die leise Ordnung der Dinge« von Rams war mir in mancher Hinsicht Orientierung. Einmal, weil ich diese leise Ordnung anstrebte, mich danach sehnte. Zum zweiten aber auch – und da beginnt meine Distanzierung – weil sie dann doch deutlich die Gefahr eines Dralls zum Formalismus förderte. Auch bei meinen Kollegen, denen diese Ordung manchmal/anfangs auch zu Langweilig war, die aber später massiv »ikonisch« designen wollten (und das Wort falsch interpretierten, nämlich als Icon, als Zeichen, und nicht als kultig, was man ja eher ablehnte). Das wollte ich nicht. Ordnung ja, aber nicht auf Kosten des Gebrauchsnutzens.

Der Formalismus, den ich bei Rams zu entdecken meine, ist ein Zwang zur »leisen Ordnung«. Man sah das auf den Fotos, die Rams zeigen, wenn er die Türdrücker-Serie für FSB entwarf. Fast könnte man sagen, es ist die Fleischwerdung »deutschen Designs«, präziser, »Deutschen Designs Ulmer Prägung«. 

Doch die Ulmer Prägung kommt eigentlich von Gugelot, der dort unterrichtete und mit der »Entwicklungsgruppe II« der HfG Ulm für für Braun arbeitete und durch dessen Kielwasser Rams als Architekt ins Design gezogen wurde. Und freilich auch von den Absolventen der Hochschule für Gestaltung Ulm (HfG Ulm) – legendär, wegen der politischen Querelen, die uns auch Otl Aicher sympathisch machten. Einer von ihnen war Gerd Müller, bekannt für den Braun Sixtant und der Schreibgeräte-Verwandtschaft, den Lamy 2000.

Bei Gugelot findet man die Ordnung ohne Formalismus. Das Kodak-Carousel von Hans Gugelot war dann auch für lange Zeit unser Benchmark für gelungenes und durchdachtes Design. Allein die Ecke, die eben keine Kurve höherer Ordnung (eine Kugel) ergibt, ist eine erfreuliche Diskussion wert. Das ist eine Qualität, die man heute Apple (zu unrecht) unterstellt.

10 Regeln – für alle Fälle?

Immer werden dann auch die 10 Regeln zum guten Design von Rams zitiert und eben auch dieser Tage wieder. Da fragte mich Lorenz vor ein paar Wochen, ob diese 10 Regeln nur für Industrial Design gelten (also für Gegenstände, die industriell hergestellt werden, in großen Stückzahlen) oder ob sie auch in anderen Feldern angewandt werden können – meinem Managementdesign, zum Beispiel.

Eine höchst interessante Frage, die ich spontan – ganz meinen Designverständnis entsprechend – mit »sie gelten in allen Feldern« beantwortete. Aber das muss ich differenzieren.

In allen Feldern müssten sie gelten, wenn sie überhaupt gelten. Charles Eames hat uns ja einmal gesagt, dass die Grenzen des Design mit den Grenzen der Probleme korrelieren. Gibt es ein Problem, dann löst man es durch Design. Damit ist klar, dass Design in allen Gebieten anwendbar ist. (Ein Artikel dazu.)

Manchmal fragt man mich sogar, ob man Design-Thinking auch im privaten Bereich anwenden kann? Freilich, es ist eine Herangehensweise, jene die Industriedesigner anwenden, wenn sie Gegenstände, Prozesse, Dienstleistungen und Erlebnisse gestalten. Also ist sie (die Herangehensweise Design-Thinking) immer anwendbar, wird sich aber in jeweils anderen Formen zeigen.

Wenn wir Design in allen Feldern anwenden, wenn wir immer designen, dann müssen Regeln über gutes Design in allen Feldern gelten.

Freilich hat Rams seine Regeln hauptsächlich auf die Gestaltung von Gegenständen (also Industrial Design) gemünzt, für seine Elektrogeräte und Regale.

Doch sie passen (mehrheitlich und mit etwas Interpretationsbedarf) auf alle Produkte. Unter Produkt verstehe ich einen Gegenstand, einen Prozess oder eine Dienstleistung.

Der aus dieser leisen Ordnung ableitbare Formalismus, der zum Beispiel den Lautstärkenregler, die Regler der Höhen und Tiefen, den Regler für das Frequenzband und sogar den Ein-Aus-Schalter alle gleich groß und fast gleich farbig aussehen lässt, dieser Formalismus ist vielleicht hübsch (auf jeden Fall »leise«), beeinflusst (behindert) die Bedienung des Geräts. Ich will hier keine Gerätekritik beginnen, es geht um die Regeln, aber selbst wenn ich es beim Braungerät als Gerätebesitzer weiß, weil ich es lernte, ist es einfacher den Volumen-Regler eines Yamaha-Verstärkers zu identifizieren, wenn ich schnell das Gerät leiser stellen muss. Für Geräte-Fremde sowieso. Es ist nicht »semantisch korrekt«, sagte ich damals (und sage ich auch heute).

Dazu, zu dieser Kritik eines durch die Regeln dräuenden Formalismus, gesellt sich die zehnte Regel: Gutes Design ist so wenig Design wie möglich. Das hat bei mir seit meinem Studium, also seit nun fast vierzig Jahre, die geistige Reaktion ausgelöst, dass demnach bestes Design, gar kein Design wäre. Das kann vielleicht sogar richtig sein – im Sinne von Müllvermeidung – aber das war wohl nicht gemeint.

Und wenn jemand meine »3 Kerneigenschaften für Design-Thinking« anwendet, dann ist es tatsächlich so, dass sogar mehr Design notwendig wäre. Mehr von dieser Zutat, die ich mit den »3 Kerneigenschaften für Design-Thinking« beschreibe, sollte in allen Produkten, also in den Gegenständen, aber auch in den Prozessen und Dienstleistungen drinnen sein.

Ich folge der Frage, ob die Regeln auf für Nicht-Gegenstände gelten könnten und stelle fest: Regel 5 und 6 (nicht aufdringlich und ehrlich) sind auch für Dienstleistungen sinnvoll.

Innovation ist mein Kernthema und die Regel 1 (Gutes Design ist innovativ.) passt daher bestens auf alle von mir angebotenen Arbeitsfelder.

Regeln 2 (brauchbar, ich nenne es nützlich) und 4 (verständlich, also vom Kunden verstehbar), das braucht es auch bei Prozessen und Dienstleistungen. Und die Ästhetik (Regel 3) ... ich sag immer, auch ein Prozess, eine Dienstleistung kann schön sein. Es gibt eine Ästhetik des Erlebens. Danach streben wir.

Regeln zur Orientierung

Es ist somit ein gutes Set an Regeln zur Orientierung. Doch dieses Regelwerk ist nicht ausreichend und es ist freilich auch in die Jahre gekommen. Lediglich die Umweltverträglichkeit ist brandaktuell – noch immer, weil trotz Club of Rome von 1972 zu wenig geschehen ist. Rams nennt es umweltfreundlich. Freundlich sind wir ohnehin, oder?

Aus heutiger Sicht ist es mir zu design-bezogen, eben aus Sicht des Designers geschrieben. Der Designer schreibt, dass Design – die Disziplin »Design« – so sein muss: innovativ, brauchbar, ästhetisch, verständlich, unaufdringlich, konsequent, umweltfreundlich (was immer das sein mag), und so wenig wie möglich. Ich habe das auch immer so ausgedrückt. Design muss so sein und so, muss dort wirken und da handeln. Aber was ist diese »Design«?

Es sind die Menschen, die handeln. Designer müssen etwas anstreben. Techniker sollen auch andere Teilaspekte berücksichtigen, Kaufleute auch andere Fakten bewerten. Weil die Nicht-Designer in unserer komplexen Welt maximal spezialisiert sein müssen, ist es die Aufgabe der Designer, sie dabei zu unterstützen. Deswegen sollen es die einen und müssen es die anderen. Die Aufgabe der Designer ist es, diesen Regeln aus Konsumentensicht, aus Nutzersicht (!!!) so weit als möglich zu folgen. Als Sparringspartner des Technikers und des Kaufmanns die Interessen der Nutzer vertreten. Diese Regeln sind dafür ein Leitfaden.

Sollen sie erweitert oder verändert werden?

Für den Moment – aber vielleicht ist das eine Aufgabe für meine Zukunft – will ich sie nur marginal korrigieren. Statt »Design« sollte zu lesen sein, der Designermensch, die Designerperson soll nach der Forderung streben. Die Handlung, das Designen soll betont werden.

Die Regel 10 will ich ersetzen. 
Und 2 hinzufügen.

Tatsächlich scheint es gelegentlich so zu sein, dass gar kein Design – also keine Mitarbeit eines Designers – besser wäre (das wenigst mögliche Design ist gar keines). Die Handwerker alter Tradition verkörpern das. Ich denke da an eine Sendung über einen Sattlermeister, sehr interessant. Da sind die 10 Regeln umgesetzt, aber eben ohne »Design«.

Doch ist das in unserer industrialisierten Welt nicht mehr möglich. Nicht in dem Sinn, dass wir alle (jeder unserer Gesellschaft) etwas davon haben. Der Kapitalismus hat diese Qualität demokratisiert (im Sinne von, hat sie uns allen zugängig gemacht). Durch diesen Kapitalismus und die Industrialisierung können es sich heute mehr Menschen leisten zu reiten oder auch Golf zu spielen als je zuvor, Tennis sowieso. Das Elitäre verschwindet in Wahrheit (entgegen dem Narrativ der aufgehenden Schere).

Wenn der Sattler es nicht mehr in kleinteiliger Handarbeit machen kann und wir die Vorteile der Arbeitsteilung nutzen, dann braucht es einen Designer, der zwischen der Technik und dem Nutzer vermittelt. Dafür brauchen wir »Design« und da machen diese Regeln Sinn. Allerdings neu formuliert. Das will ich bei Gelegenheit nachliefern.

Für den Moment ersetze ich diese zehnte Regeln, die den Designer in letzter Konsequenz entfernt, durch die erste meiner »3 Kerneigenschaften für Design-Thinking« und ergänze diese 10 Regeln zu einem Dutzend mit den anderen beiden.

10

10. Unternehmer (und Designer) brauchen Empathie (in Ramsscher Schreibweise hätte das vermutlich »Design muss empathisch sein.« geheißen. Das zeigt sehr gut, dass diese Formulierungen nicht mehr zeitgemäß sind und deutet mir an, wie ich die Regeln neu formulieren werde);

11

11. Unternehmer (und Designer) brauchen Interpretationskompetenz (Design muss richtig interpretieren.)

12

12. Unternehmer (und Designer) brauchen Entscheidungsmut (Design entscheidet mutig für »das Richtige«).

Diese Ergänzungen sind ein Anfang und ich sehe schon eine schöne Aufgabe darin, auch die anderen Regeln anzupassen. Es ist unbedingt notwendig das unpersönliche, indem die Disziplin »Design« angesprochen wird, aufzulösen. Ich will die Menschen, den Entscheider (der Unternehmer) und seinen Gefährten (der Designer) ansprechen und in die Pflicht nehmen. Diese beiden können die gewünschte Veränderung bewirken, der zweite macht aufmerksam und fungiert als Sparringspartner, der erste entscheidet mutig und ist der Champion.


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