Seit Everett Rogers’ Forschungen wissen wir, dass eine Innovation zur Durchdringung des Marktes fünf Stufen durchlaufen und dabei auch fünf Gruppen von Kundentypen erreichen muss. Von Geoffrey Moore haben wir dann erfahren, dass es zwischen den ersten beiden Gruppen und den späteren drei Gruppen eine Kluft gibt. Einen Graben (the chasm), den es zu überwinden gilt, was vielen Startups mit ihrem Produkt nicht gelingt.
Eine markterschütternde (disruptive) Innovation startet immer bei den frühen Käufern, bei Enthusiasten und Visionären.
Die Enthusiasten oder Innovators sind begeistert von der neuen Technik, oder allgemeiner, der Neuerung. Auch wenn das Produkt noch nicht klaglos funktioniert, noch mangelhaft ist, wollen sie sich damit auseinander setzen. Sie sind an der Technik, an den Details interessiert, wollen wissen, wie es funktioniert, wie man damit umgeht, wie man es nutzen kann. Sie spielen damit, experimentieren. Perfektion interessiert sie nicht, sondern das Erkunden der Möglichkeiten. Das gilt für den ersten iPod genauso wir für den ersten Zipp- oder Klettverschluss.
Die Visionäre oder Early Adopters sind schon einen Hauch »pragmatischer«, aber eben noch immer visionär: sie sind am Neuen interessiert, weil das Neue, das man als erstes erhält, Chancen bietet. Sie wollen mit der Neuerung einen Vorsprung für sich herausholen, wollen das Produkt (den Gegenstand, den Prozess oder die Dienstleistung) als erstes nutzen. Für ihre Zwecke. Auch für sie ist ein Mangel kein Hinderungsgrund, solange sie die Vision haben damit ihre Mitbewerber aus dem Markt zu drängen. Mit diesen Kunden kann man die »großen Deals« machen. Das sind dann jene Ereignisse, die die Startups feiern und vermuten lassen, dass sie kurz vor dem Durchbruch stehen. Also erhöht man die Kapitalisierung, findet weitere Investoren und träumt von den jetzt drastisch steigenden Umsätzen. Schließlich ist man dabei die 16-%-Hürde zu überspringen und den Markt der nächsten 68 % zu erobern. Dabei übersehen sie den Abgrund, den es dafür zu überwinden gilt.
Auf der anderen Seite dieser Schlucht (chasm) warten die Early und Late Majority, die Pragmatiker und Skeptiker. Diese beiden Kundentypen des »Mainstream-Marktes« sind gänzlich verschieden zu den beiden »frühen Kunden«.
Early Majority Kunden sind Pragmatiker. Neue Produkte interessieren sie nicht, nur weil sie neu sind. Daher reden sie auch nicht viel (oder gerne) mit diesen Early Adoptern, die da immer mit irgendetwas Neuem daher kommen, das man nicht braucht, weil das Alte sowieso bestens funktioniert. Das hat bisher glänzend funktioniert, es reichte aus, das wird auch weiterhin genügen. Etwas Neues bedeutet, neu lernen zu müssen, Abläufe zu verändern, neue Gewohnheiten zu entwickeln. Das ist mühsam, das will ein Pragmatiker verhindern. Überhaupt dann, wenn es noch unsicher ist, ob das neue Produkt überhaupt richtig funktioniert, wenn es noch Mängel hat. Erst wenn es funktioniert, wenn es hält, was es verspricht, dann überlegt ein Pragmatiker über den Tausch des Vorhandenen. Pragmatiker sind loyale Kunden. Einmal gewonnen müsste man sie belügen, sie schwer enttäuschen, um sie wieder zu verlieren.
Die Skeptiker, also die Late Majority (das sind die zweiten 34 % des Marktes), die nehmen das Neue überhaupt erst dann an, wenn sie müssen und erwarten dann, dass das Produkt billiger und verlässlicher, eben erprobter ist. Das ist wahrscheinlich, denn mittlerweile hätte unser neues Produkt 50 % der Kunden erreicht.
Die Nachzügler (Laggards) kaufen das Neue erst, wenn es das Alte nicht mehr gibt.
Stellt sich die Fragen, warum wir diesen Abgrund überspringen müssen? Ist es wirklich notwendig? Ja, für weiteres Wachstum eines Unternehmens, um zu skalieren, könnte ich überlegen, diese Kunden des Hauptstrom-Marktes zu erobern.
Ich könnte mir aber auch überlegen, dass 16 % Marktanteil und Lieferant für Innovators und Early Adopters zu sein, interessant genug ist. In diesem Fall erscheint es müßig darüber nachzudenken, wie ich über den Graben komme, dann konzentriere ich mich auf diese 16 % der Enthusiasten und Visionäre.
Ich könnte ja nun genau diese Gruppe in anderen geographischen Märkten zu erreichen versuchen. Aufwändig, aber auch eine Möglichkeit zu wachsen.
Einfacher und lukrativer freilich wird es sein, eine Strategie zu erarbeiten, wie man sicher über die Kluft springt und den großen Markt für das neue Produkt interessiert. Die »Early Buyers« zu erreichen, erfordert viel Engagement, es muss ja immer Neues sein, also ein nicht abreißender Strom an Innovationen. Kein Verschnaufen und Lorbeeren einsammeln, sondern laufend innovieren. Sehr anstrengend, sehr teuer, sicher aber auch sehr interessant. Forschungsabteilungen und Erfinder sind hier zu Hause. Selten sind das die Millionäre. Der Gewinn liegt im Abernten der Früchte, wenn die große Masse Interesse hat und einkauft. Ein iPod zum überhöhten Preis am Anfang, ein iPod Mini (oder Nano) für die Early Majority und den großen Marktanteil, ein iPod Shuffle für den Rest und um sicher alle potentiellen Käufer erreicht zu haben.
Immerhin können wir an den Innovationen der letzten hundert Jahre beobachten, dass sie durchgereicht werden. Nicht immer von jenen, die die Innovation gestartet haben.
Moore benutzt dafür die Metapher des D-Days. Man muss einen Brückenkopf bilden, nur an einer Stelle, dafür mit allen Kräften angreifen. Die Allierten wählten die Normandie und alle Streitkräfte starteten an dieser Stelle die Rückeroberung. Analog, so Moore, macht man das auch mit der Innovation. Und analog zu 1945 ist es eine Hochrisiko-wenig-Daten-Mission.
Gottlob kennen wir im Design-Thinking passende Methoden, die uns zum informierten Spekulieren ermächtigen. Wir nutzen unser Intuition und erforschen Kunden-Archetypen. Das gelingt mit der den Designern (und anderen bekannten) Methode »A Day in the Life«. Dabei untersuche ich, welche Probleme vor der Nutzung meines Produkts bestehen und wie die sich darstellen würden, nachdem mein Produkt etabliert worden wäre. Ist es (aus Nutzersicht) besser? Wenn ja, muss ich nur noch feststellen, ob ich diese Verbesserung auch stabil liefern kann. Erscheint es mir, dass das nicht gelingt, dann suche ich eine anderen Kundenarchetyp.
Ich muss diese Gruppe sorgfältig auswählen. Es ist der »erste Pin in der Bowlingbahn« (so Moore), den ich zum Fallen bringe. Es ist ein Segment in dem ich höchstwahrscheinlich 80 % des Marktes erreichen werde.
Die Macintosh-Leute wählten in den späten 1980ern die Grafikabteilungen der großen Unternehmen als ihre »Normandie«. Von dort gelang der Siegeszug, denn als die Grafikabteilungen Macintosh und Desktop-Publishing nutzten, da wollten das freilich auch die Marketingabteilungen. Immerhin könnten sie dann besser ihre Unterlagen aufbereiten. Die Verkaufsabteilungen sahen das und meinten, wenn sie auch solche Geräte hätten, dann könnten sie ihre Unterlagen schneller (und ohne Marketing) anpassen. Was schließlich die Werbeagenturen dazu bewog, solche Geräte anzuschaffen. Immerhin waren sie es, die diese Kampagnen entwarfen. Also mussten nun auch die Druckereien umsteigen. Der Macintosh erlangte den Ruf eines Grafikergeräts. Bald wollten nun auch andere Bereiche der Organisationen mit bequemer bedienbaren Geräte arbeiten. (Ja, dazwischen kam dann Windows 95 und bremste den Siegeszug, aber das Prinzip ist klar, oder?)
Ähnlich gelang das beim iPod. 80 % Marktanteil gelingt Anfang des Jahrtausends nicht nur mit Macintosh-Usern, aber die waren der Brückenkopf. Bald wollten auch Windows-User iPods verwenden, also bekamen sie iTunes für Windows und es war Domino-Day für Apple. Zuerst kaufen wieder die Early Adopters, dann der Rest. Das Produkt war bereits »vollständig.«
Wenn ich einen passenden Archetyp für den Brückenkopf identifiziert habe (meine Zielkunden), dann muss ich noch drei weitere Checks durchführen, bevor ich mit der Landung beginnen kann.
Zuerst die Frage, ob mein Angebot ein unwiderstehlicher Grund für diese Zielgruppe ist zu kaufen. Das kann ich ein wenig mit der Kategorie steuern. Gleich ein paar Worte mehr dazu.
Dann muss ich sicherstellen – und das erscheint mir als essentiell –, dass ich alles berücksichtigt habe, damit mein Produkt in das Ökosystem des Pragmatikers passt, dass es »vollständig« ist. Das ist das, was ich mit »anschlussfähig« bezeichne. Innovationen, die sich nicht in die Welt der Kunden einfügen oder wenn Kunden das nicht erkennen und es ihnen nicht gesagt wird, scheitern. Die waren dann »zu früh.« Was nicht der Fall ist; sie waren bloß nicht anschlussfähig. Entweder weil sie nicht vollständig waren, oder weil ihre Anschlussfähigkeit nicht dargestellt wurde.
Schließlich muss ich mir noch Gedanken machen, ob es auch Wettbewerb gibt. Ohne Wettbewerb kein Markt. Zuviel Wettbewerb, zu gefährlich, zu aufwendig. Ich suche mir einen Markt aus – eine Kategorie! – in der ich (so sagt Moore) 50 % des nächsten Jahresumsatzes machen kann. Ich nennen es, einen Markt, der groß genug ist, dass es relevant ist und klein genug, damit ich diese Gruppe gut bearbeiten und ich der führende Anbieter werden/sein kann. Relevant ist dabei zweidimensional. Zum einen muss ich damit meinen notwendigen Umsatz erwirtschaften können, zum anderen muss ich damit gut sichtbar werden. Immerhin will ich von diesem Segment aus die anderen Segmente erobern (die anderen Kegeln umwerfen). Dieser Markt muss auch ideal zu meinen essentiellen Produktvorteilen sein (den »Crown Jewels«).
Andere Punkte der Checkliste, die aber keine Show-Stopper wären, sind die verfügbaren Partner und Verbündete, die Vertriebskanäle, der erzielbare Preis, die Positionierung und die nachfolgende Kundenzielgruppe (z.B. Marketing nach Grafikabteilung, ich muss wissen, wie es danach weitergeht).
April Dunford erzählt in ihrem Buch »Obviously Awesome« von einem Startup, das eine Datenbank entwickelt hatte, mit der man komplexe Auswertungen schnell machen konnte. Das Team präsentierte das Produkt als Datenbank (Kategorie!) und erntete Absagen. Sie langweilten mit ihren langen Einführungen. Niemand wollte das. Datenbanken sprachen die späten Märkte an, die Pragmatiker und Skeptiker. Bis eines Tages ein potentieller Kunden den Hinweis gab, dass das eher ein Data-Warehouse wäre als eine Datenbank. Data-Warehouse war damals etwas Neues, wenig Mitbewerber, teuer, das interessierte die frühen Märkte, die Innovators und Early Adopters.
Um in den späten Markt einzutreten, um über die Kluft zu springen, muss man sich einen Markt (eine Kategorie) aussuchen, in der es bereits Mitbewerber gibt, aber nur wenige. Die Mitbewerber brauche ich, damit die Pragmatiker mein Produkt einordnen können. Sie kennen die anderen Marktteilnehmer, sind mit deren Leistungen vertraut und so baut sich genügend Vertrauen auf, dass sie sich meinem Produkt nähern und vergleichen können.
Es geht um den Wert, den die Zielgruppe (jene, die ich ansprechen will) im Produkt erkennt. Die Pragmatiker sehen eine teure Datenbank, die nicht all das kann, was Oracle anbietet, dazu teurer ist und von einem unbekannten Unternehmen angeboten wird. Aber erkläre ich, dass es ein Data-Warehouse ist, für Analysen der Datenbank-Daten, dann verstehen sie, dass das teurer ist und dass es nützlich ist.
Mitbewerb in diesem Teilmarkt unterstützt mich in der Argumentation; es ist der Beweis, dass es ein sinnvolles Angebot ist. Ich kann dann sagen, sieh mal, hier funktioniert mein Produkt bestens (z.B. bei Banken), nur hier (bei dir) hat es noch nie jemand gemacht; jetzt kannst auch du davon profitieren.
Diese Mitbewerber sind jene Anbieter, die mit ihren Produkten einen vergleichbaren Wert für meine Zielgruppe liefern, wie ich es mache. Ist mein Produkt der Milchshake, der ein kleines Frühstück sein soll, dann sind die Mitbewerber, die Donuts, Baggels, Bananen und Snickers-Riegel. Also nicht unbedingt Anbieter aus meiner Teil-Branche (in diesem Beispiel Fastfood-Ketten).
Während es für die »frühen Anwender« genügt, mein Produt zu positionieren, sodass ich ein »cooles Produkt« anbiete, das einfach zu benutzen ist, zu einem verträglichen Preis und mit ein paar Produkt-Mitbewerber, muss ich mein Produkt für die Pragmatiker im Markt positionieren, d.h. mit solider Nutzererfahrung, zu einem guten Preis, mit angemessenem Wert für die Zielgruppe, seinem Zweck entsprechend und mit anderen Marktteilnehmern; vor allem aber muss es »vollständig« sein.
Ein vollständiges Produkt, so hat uns Theodore Levitt erklärt, ist generisch (z.B. das iPad an sich), es erfüllt die Erwartungen (also ich kann zuverlässig damit arbeiten, erst ab iPad 2, die Minimalanforderungen sind erfüllt), es bietet erweiterten Nutzen (Kalender-App, Browser, eMail, eBook-Reader) und es eröffnet Potentiale (der App-Store zum iPad). Schließlich ist es kompatibel mit dem aktuellen Umfeld meines Kunden. Es ist anschlussfähig!
Das kann ich allein schaffen, aber auch mit Verbündeten, mit Partnern. So gelang Firefox der zwei Jahre lang dauernde Sprung über den Abgrund mit Hilfe von Entwicklern, mit Google, Microsoft und Yahoo.
Wenn ich das alles erreicht haben, dann definiere ich die Produktposition im Markt. Die Kunden wollen mein Produkt einordnen und es muss leicht sein, es zu kaufen. Wir erkennen in diesen Forderungen einige der Kanäle des Business-Model-Canvas (und wir bearbeiten das auch in meinem Businessdesign-Modell).
Diese Information liefere ich am Einfachsten mit einem Elevator-Pitch nach einer Formel von Geoffrey Moore. Der meint, dass man sich kaum an die 7 Stellen einer Telefonnummer erinnern kann (wenn man sie das erste Mal hört), also muss der Elevator-Pitch kurz sein: 2 Sätze. Er stellt »die Knochen der Positionierung« dar: Für (Zielgruppe) die unzufrieden sind mit (aktuelle Marktalternative) ist mein Produkt ein (Produktkategorie), das (überzeugender Grund für einen Kauf) liefert. Anders als (Alternative) bieten wir (wesentliche Eigenschaften des vollständigen Produkts). Wenn du das Arbeitsblatt dafür haben willst, dann schreibe mir.
Schließlich habe ich die notwendige Geschwindigkeit und bin bereit fürs Abheben; die Vertriebskanäle sind definiert, die Preise darauf abgestimmt, nun sollen die anderen Kegeln der Bowlingbahn fallen. Das ist eine Viel-Daten-Niedrigrisiko-Mission.
Wer im Abgrund ist (oder sich auf den Sprung darüber bereit macht), der muss seine Zielgruppe sorgfältig wählen und das Produkt klug positionieren.
Wobei letztlich doch noch festzuhalten ist, dass man ja nicht unbeschränkt wachsen muss. Wenn ich meine Lieblingskunden bestens betreuen kann – und das sollte doch meine Zielgruppe sein – und die auch bereit sind für meine Leistung adäquat zu bezahlen, weil sie den Nutzen wertschätzen, dann könnte das genügen. Das gilt bestimmt bei Selbstständige und Kleinunternehmern; Konzerne freilich können nicht wählerisch sein ... die müssen über den Graben springen und skalieren.
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